„DIE SECHSTE STELE” oder: 60 Jahre Kriegsende
April/Mai 2005















DENK MAL!

Anlässlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes wird die Anlage des Krieger-Ehrenmals in Steenfelde/Niedersachsen auf Initiative des Pastors Claus Dreier künstlerisch umgestaltet. Es handelt sich hierbei gewissermaßen um eine interdisziplinäre Gemeinschaftsaktion: Geisteswissenschaft und Kunst.

Die Akteure sind Kai Engelke (Schriftsteller und Maler), Sarah H. Kirsch (freischaffende Künstlerin im Bereich Metallbildhauerei, Malerei und Computergrafie), Norbert Knitsch (Schauspieler, Dipl. Theaterpädagoge, Wissenschaftlicher Autor), Hartmut T. Reliwette (Bildhauer und Schriftsteller) und Thomas Trey (Cartoons und Texte).

Standort ist das Ehrenmal an der Kirche im ostfriesischen Steenfelde (www.steenfelde.com).

Die Anlage befindet sich unterhalb der Kirche und besteht aus fünf aus Stein gehauenen Stelen und einem großen in Stein gehauenen Kreuz in der Mitte. Alle Stelen tragen Inschriften mit symbolischen Aussagen wie Kameradschaftstreue, Ehre und Trauer. Zusätzlich sind die Namen der Gefallenen verzeichnet. Die Anlage selbst ist in Buxus eingefasst, hat eine ovale Form, wobei drei Stelen zur rechten Seite an die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges erinnern, zwei zur linken Seite an jene des Ersten Weltkrieges. So betrachtet ist man der Anzahl der Gefallenen und Vermissten entsprechend zur Asymmetrie gezwungen worden.



In der Künstlergruppe hat sich die Idee entwickelt eine sechste Stele zu bauen, die vom Material her auffällig ist, da sie aus V2A-Edelstahl gefertigt und mit einem besonderen Schliff versehen wird.



Der Oberflächenschliff der Stele erzeugt eine optische Täuschung für das menschliche Auge, die durch das Schleifen in Gegenrichtung bewirkt wird. Sie kann auf einem Foto oder einer Zeichnung nicht dargestellt werden, da Bilder diesen Effekt nicht vermitteln können. Zudem werden diese optischen Täuschungen durch den Einfallswinkel der Lichtquelle (Sonne) und wechselnden Standort des Betrachters bestimmt.



Sie soll symbolisch all jene berücksichtigen, die unter anderen Umständen zu Tode gekommen sind: Juden in den KZ, politisch Andersdenkende (z.B. in Esterwegen Carl von Ossietzki und Werner Finck) oder auch Wehrdienstverweigerer ("Feiglinge vor dem Feind", die man noch in den letzten Kriegstagen kurzerhand aufknüpfte mit einem Schild um den Hals: "Ich bin ein Vaterlandsverräter"), Zigeuner. Aber auch der "zivilen" Opfer der Kriege - der im Bombenhagel und Feuersturm Umgekommenen, der von vorrückenden Armmeen Geschundenen und Getöteten, der auf der Flucht und in der Vertreibung Gestorbenen - soll gedacht werden. Die Liste der Orte des Grauens ist endlos - Guernica, Coventry, Stalingrad, Warschau, Dresden, Hiroshima, My Lai, Kambodscha, Ruanda, Srebrenica, Dafur ...

Schließlich und zuletzt soll diese sechste Stele weit in die Zukunft weisen - vor möglichen Kriegen warnen, zum Nachdenken anregen - vielleicht auch im Sinne von: Wehret den Anfängen. Hintergründig soll sie auch vor dem möglichen neuen Erstarken der Neonazis warnen, so dass aus einem Mahnmal auch so etwas wie ein Warn-Mal werden kann.

Gemeinsam enstand die Idee, statt Typografie ein Stück Stacheldraht aus der Stele ranken zu lassen - nicht viel - nur ein kurzes Stück, welches später mal eine rostige Tränenspur auf dem nichtrostenden Metall herunter rinnen lässt und somit für sich spricht.

Fertig gestellt wird die "Die sechste Stele" bis zum 8. Mai 2005, da sich dann das Ende des Krieges zum 60. Mal jährt. An diesem Tag findet im Anschluss an einen Gottesdienst, der um 10 Uhr beginnt, eine Gedenkfeier und die Enthüllung der Stele statt.

Ein weiteres Gestaltungsmoment und somit eine weitere Aussage soll eine Verbindung aller Stelen und aller Trauer durch die Mittelfläche schaffen, die zur Zeit aus Grassode besteht.



Diese Mittelfläche wird in ein tränenförmiges Beet umgestaltet. Bepflanzt wird es mit dem Erdrauchgewächs "Dicentra spectabilis", besser bekannt unter dem Namen "Tränendes Herz", "Blutendes Herz", "Gebrochenes Herz" oder auch "Mutterherz".



Die Schattenstaude blüht im Mai, zieht sich dann wieder ein, erscheint aber jedes Jahr im Frühjahr wieder und erinnert so mit ihren herzförmigen Blüten, an denen ein Tropfen hängt, an den Mai......

Gedenkstätte B 401

Betrittst du Außenstehender diesen Ort dann flüstern
Die Birken dir das Grauen ins Ohr

Sie sind noch alle hier und ihr Schweigen seit sechzig Jahren
Kommt wie ein Stöhnen dir vor

Dann stehst du Nachgeborener zwischen den Überlebenden
Die manchmal zweifeln ob es gut war zu bleiben

Singst mit ihnen das alte Lied aus dem Zirkus Konzentrazzioni
Schämst dich für deine Zeit

Denn es denken die von Gestern schon wieder an Morgen
Überschütten zynisch den Tod der Schweigenden mit braunem Hohn

So lass dir immer wieder - Außenstehender - von den Birken erzählen
Wie es damals war immer wieder und immer wieder

Damit du niemanden und nichts vergisst und jene vielleicht
Ein wenig wenigstens ein wenig vergessen können

Tränen alleine sind nicht genug Mitleid kann auch
Verachtung sein nur Worte allein genügen nicht

(für die Moorsoldaten und für meine Kinder)


Ein Gedicht

Wollte ich schreiben das zum Knüppel taugt
Kämpfen würde ich für die Freundlichkeit
Und um die Ohren schlagen möchte ich
Den Hassenden meine Poesie

Stärke wollte ich meinen Zeilen verleihen
Und Macht um zu besiegen die Angst
Indes sind sie nicht mehr aber auch nicht weniger
Als ein paar Blüten im Kanonenlauf der Zeit

Kai Engelke

Drei Wochen später:

   

          

Sonntag, 8. Mai 2005

Ein Sonntag.
Ein Gottesdienst.
Danach verlassen die Menschen die Kirche.

Auf dem Kirchhof bleiben sie stehen.
Versammeln sich vor der Anlage des Ehrenmals.

In der Mitte der Anlage befindet sich ein fast tränenförmiges Beet, bepflanzt mit "Tränenden Herzen".
Am hinteren Ende der Anlage ein großes steinernes Kreuz, rechts davon drei Stelen aus Stein, links zwei aus Stein und eine verhüllte Stele.
Schwarzer Stoff.

Vor dem steinernen Kreuz ein alter Stuhl.
Ein Koffer aus den dreißiger Jahren.
Ein Mann im alten, zerlumpten Frack. Er trägt weiße Handschuhe, eine gelbe Armbinde, einen Strick um den Hals - in den Händen hält er ein Buch ...


Der Pastor der Gemeinde steht vor der verhüllten "Sechsten Stele".
Er hält eine Ansprache.
Dann verlässt er die Anlage.

Der Mann im Frack öffnet den Koffer, darin sind viele alte Bücher und ein Grammophon ... eine Geige erklingt ... Jules Massenet.

Männer kommen und enthüllen die "Sechste Stele".
Sie ist aus Edelstahl geschweißt und glänzt. Oben links befindet sich ein Stück rostiger Stacheldraht, der das Erinnern an die namenlosen Opfer unterstreicht.

Der Mann im Frack erhebt sich - schwerfällig, wie es scheint.
Er bewegt sich schleppenden Schrittes am Beet entlang zur "Sechsten Stele".
Er verharrt.
Schaut von seinem Buch auf.
Erhebt die Stimme, rezitiert einen Text von Kai Engelke:

"Ein Gedicht"

geht zwei, drei Schritte ... schaut über den Brillenrand hinweg in die Menge:

"Ein Gedicht
Wollte ich schreiben das zum Knüppel taugt
Kämpfen würde ich für die Freundlichkeit
Und um die Ohren schlagen möchte ich
Den Hassenden meine Poesie"

Der Mann ist dabei an der "Sechsten Stele" angelangt.

"Stärke wollte ich meinen Zeilen verleihen
Und Macht um zu besiegen die Angst
Indes sind sie nicht mehr aber auch nicht weniger
Als ein paar Blüten im Kanonenlauf der Zeit"

Seine Stimme wird leiser, während er wiederholt:

"... indes sind sie nicht mehr aber auch nicht weniger
Als ein paar Blüten im Kanonenlauf der Zeit ..."

Er wendet sich zur Stele, beschaut sie ... kramt in seinen Taschen ... holt eine Muschel hervor.
Er hält sie ans Ohr, lauscht ...
er legt die Muschel oben auf die Stele, nimmt den Strick von seinem Hals und hängt ihn neben die Muschel über die glänzende Stele,
dreht sich um, schreitet zu seinem alten Stuhl, sinkt darauf nieder ...
das Geigenspiel endet.


T r a u m
(Antikriegslied)

Rosarotes Gewölk:

Es trotten in langen Reihen
Kälber in Samt und Frack
zum Schlachthof im Morgengrauen

Strahlend blauer Azur:

Ein jedes Kalb - es sammelt
ein Stückchen Fels vom Weg
und trägt es auf dem Rücken
zu keinem Ziel und Zweck

Blutig rote Abendwolke:

Und abends marschieren noch immer
die Reihen mit festem Tritt,
und alles was ihnen begegnet,
macht kehrt und trottet mit

Da wartet schon der Schlächter
mit seinem scharfen Beil
und köpfet alle Kälber
und hängt sie auf am Seil ...

H.T. Reliwette 1972


©fotos, skizzen, grafiken: K!RSCHgestaltung